Ich sehe, was Du siehst

Zum Tod von Katja Kamm

Am 10. März dieses Jahres ist Katja Kamm gestorben.
Unfassbar.

Illustration von einem Mädche, dass einen roten Ball in die Luft wirft. Von Katja Kamm, © Katja Kamm, Unsichtbar. Peter Hammer Verlag, 2002
© Katja Kamm, Unsichtbar. Peter Hammer Verlag, 2002

 „Unsichtbar“?

Du bleibst durch Deine herausragenden Bilderbücher sichtbar.
Wir und sehr viele Kinder haben durch Deine Bilderbücher einen freien, spielerisch-anarchistischen Blick auf unsere Welt kennengelernt. Wir sehen nun immer auch ein wenig, was Du siehst.
Und darüber hinaus bleibst Du in unserer Erinnerung sichtbar als eine Person, die so präsent in Erscheinung trat, wie wenige Menschen.
Wenn man mit Dir arbeitete, dann war nichts einfach mal eben so gesagt oder getan, aber im Ergebnis immer alle und alles bereichernd.
Unbedingt.
Dieses Wort fällt mir immer für Dich ein.
Genial bilderfindend.
Mit Deinem Sinn für Humor, auch für reichlich schwarzen Humor, wirst Du in Erinnerung bleiben.
Deine Bildgestalten zeichnen sich nie durch rosa oder blaue Farben als das eine oder andere Geschlecht aus. Trägt ein Mädchen in Deinen Büchern rosa, dann wird das rosa Kleid konterkariert durch tolle Strümpfe mit schwarzem Aufdruck „baff“.  Du warst Pionierin in der Gestaltung von Protagonist*innen, die nicht determiniert sind, sondern frei in ihrem Auftreten.
Genauso warst Du selber. Eigensinnig, mit einem innovativen Sinn für Erzählung durch Farbe und Form.

„Unsichtbar“

Dieses Bilderbuch war für mich eine Erweckung, als ich 2005 das Kinderbuchhaus gründete, dem Du verbunden warst durch so manche funkensprühende Arbeit.
Das handwerkliche Mittel digitaler Bildbearbeitung wurde in Deinen Geschichten zum bilderzählenden Movens. Ohne Worte waren Deine Geschichten oft. Dennoch viele mögliche und niemals vorgeschriebene Geschichten in kleinen und großen Betrachter*innen hervorrufend.  
Unsichtbar: Ein Bilderbuch, das sicher ein Klassiker werden wird.
Und das ausgezeichnet wurde, kaum dass du die Bilderbuchwelt betreten hattest.
Yes, Katja: der Jugendliteraturpreis ist Dir 2003 dafür verliehen worden. Auf jeden Fall eine der besten Wahlen ever! Viele Kinder haben Dir durch ihr Lachen und ihr Staunen in den Werkstätten zu diesem Buch noch viel mehr Preise verliehen.

„Das runde Rot“

Im selben Jahr folgte das Bilderbuch „Das runde Rot“. Wie „Unsichtbar“ ein Buch, in dem Farbe und Form eine komische Geschichte erzählen. Eine Schule des Sehens, mit Witz und wundersamen Protagonisten. Hauptrolle spielt hier ein sich stets wandelndes rundes Rot.

„Hauptsache, es wird kein Hund“

Kann man mehr Ironie (für die Erwachsenen Leser*innen) und Komik (für die Kinder) in eine Geschichte über eine Schwangerschaft mit all den Erwartungen der Gesellschaft an die werdende Mutter geben? Die komische Geschichte, die sich Martin Baltscheit ausgedacht hat, wurde durch Katja Kamms Bildideen zu einer hintersinnigen Bildergeschichte eines vor abgedrehter Phantasie nur so sprühenden Mädchens, das am Ende der Geschichte unverhofft sehr glücklich ist über den Familienzuwachs. (Es wurde kein Hund, übrigens)
Mit Deinen Gestalten aus „Hauptsache, es wird kein Hund“ warst Du 2012 vertreten in unserer Ausstellung „Paula und die anderen“. Mit dem kleinen Mädchen, das sich fragt, was da wohl aus Mamas dickem Bauch kommen wird, hat es diese Ausstellung überMädchenfiguren im modernen Bilderbuch auf Seite eins des Hamburger Abendblatts geschafft. Das Covergirl für diesen Aufmacher war Katja Kamms Schwester in spe aus „Hauptsache, es wird kein Hund“.
Der schöne Artikel aus der Ausstellung hat auch dein Anliegen verbalisiert:
„Kunst für Kinder ist nicht niedlich!“
Niedlich? Nee, das sind all Deine Gestalten nicht. Und Du selber warst natürlich nie auch nur ein bisschen niedlich.  Sondern immer kämpferisch und unbequem und klug und witzig und zudem gewandet, als würdest Du gern selber mitspielen in Deinen eigenen Geschichten.

„Ich sehe, was Du siehst“  

Ein herrliches Bilderbuch, ganz für das Mitmachen und Mitgestalten geschaffen. Eine Art Quintessenz Deines Anliegens: Sehen lernen, Gestalten lernen, selber kreativ werden. Eine frohe Botschaft, jenseits von „Malen nach Zahlen“, mutig verlegt vom Carlsen Verlag.
Wir hatten 2019 das Vergnügen, in der Folgeunterkunft Bloomkamp in Hamburg für geflüchtete Kinder und ihre Mütter aus Syrien nicht nur „Unsichtbar“ als Bilderbuchkino vorzustellen, sondern anschließend mit Kindern und Müttern und dem Buch „Ich sehe, was Du siehst“ einen fantastischen Nachmittag erleben zu dürfen.
Nicht nur in dieser Werkstatt hast du mit glühendem Engagement alle Zusehenden zu Mitgestaltenden gemacht und nebenbei bewiesen: Gute Bilderbücher kennen keine sprachlichen oder kulturellen Grenzen.

„Tirade, Pomade…Ich versteh nix, wie schade.“

Buchentdeckertag in Hamburg 2018. Mit diesem verrückt-anarchistischen, sprach- und bildakrobatischen Buch gestaltetest Du eine Buchentdeckerwerkstatt bei uns im Kinderbuchhaus. Ergebnis waren meterlange Wortschlangen absurder Wörter, die mit den Kindern erfunden wurden. Fröhlich lief die Wortpapierschlange durch das Altonaer Museum.

Immer wenn wir uns trafen, um neue Projekte zu bereden, und das nun letztendlich leider doch viel zu selten, war es klar: Du hast Deine Ideen mitgebracht! Immer mit ganz neuen, frischen, zunehmend anarchistischeren Sichtweisen. Als sei die Befreiung des Sehens Dein Hauptanliegen geworden.
Deine Energie, Deine Phantasie: Damit hast Du die Kinder und uns angefeuert, damit Phantasie leuchten kann. Sichtbar! Wie ein rundes Rot.

Aus dem Schwarzwald, wo du geboren wurdest, bist Du in die große weite Welt gereist. In New York warst Du und hast dort Dein Handwerk gelernt. Mitgebracht hast Du uns nach Hamburg eine bis dato hier ungekannte Weise, mit digitalen Bildern in Bilderbüchern zu erzählen.

Dein letztes Getränk mit mir, im Innenhof des Altonaer Museums 2019. Wir redeten über mögliche Werkstätten und Fortbildungen zum Thema Gendergerechtigkeit.
Du bestelltest eine Cola mit seeehr vielen Eiswürfeln drin. Es war ein  warmer Sommervormittag vor der Coronazeit.
Ich bedauerte es sofort, mir nur einen langweiligen Filterkaffee bestellt zu haben.

Das Team des Kinderbuchhauses, viele kleine und große Menschen, die Du mit Deinen Ideen beschenkt hast, werden Dich vermissen. Wir sind traurig, auf Dich, auf Deine Inspiration, auf Deine Präsenz nun verzichten zu müssen.
Farewell, Katja!

Deine Dagmar und das Team des Kinderbuchhauses im Altonaer Museum


Literatur:
Katja Kamm. Unsichtbar. Peter Hammer Verlag 2002
Katja Kamm, Das runde Rot. Bajazzo 2003
Martin Baltscheit, Katja Kamm. Hauptsache, es wird kein Hund. Bajazzo 2007
Katja Kamm. Ich sehe, was Du siehst. Carlsen Verlag 2014
Katja Kamm, Tirade, Pomade…ich versteh nix, wie schade. Tulipan Verlag 2017

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